Interkulturelle Fallstudien

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Einordnung der interkulturellen Fallstudie in die Methodenlandkarte für Maßnahmen zur interkulturellen Personalentwicklung

Interkulturelle Fallstudien dienen zu einer interaktiven Auseinandersetzung der TeilnehmerInnen mit einem realen Fall aus der Praxis, der die Beschreibung und Erläuterung kultureller Unterschiede ermöglicht[1]. Sie können im Rahmen von interkulturellen Trainings eingesetzt werden, um die Reflexion über kulturelle Differenzen zu initiieren.

Konzept

„Das Wesen der Fallstudie beruht darauf, dass die Lernenden sich mit einem aus der Praxis gewonnenen Fall auseinandersetzen und in Gruppendiskussionen die Fähigkeit erwerben sollen, für diese Fallsituation nach alternativen Lösungsmöglichkeiten zu suchen, sich für eine Alternative zu entscheiden, diese Wahl zu begründen und mit getroffenen Entscheidung und deren Bedingungen in der Realität zu vergleichen“[2]. Größere Gruppen werden in der Regel in kleinere und aktive Arbeitsgruppen (von 4 bis 6 Personen) aufgeteilt. In jeder Arbeitsgruppe werden das Fallmaterial analysiert und Lösungsvorschläge, die später im Plenum reflektiert werden sollen, erarbeitet.

Bei der Auswahl bzw. der Konstruktion einer Fallstudie, sollte der/die TrainerIn auf die Authentizität und Aktualität des Falles achten[3], d.h. der geschilderte Fall sollte realitätsnah und aktuell sein. Dabei nutzt die Formulierung der Situation im Präsens, da die Erzählung in Vergangenheitsform geringere kritische Aufmerksamkeit auf die gegliederten Ereignisse zieht[4]. Der Fall wird entweder von dem/der TrainerIn vorgelesen oder die TeilnehmerInnen bekommen die Studie in schriftlicher Form zur eigenen Lektüre. Eine effektivere Vorstellung des Falles kann jedoch mithilfe von Videos oder Folien erfolgen.

Die Erarbeitung einer Fallstudie im Rahmen eines Trainings erfolgt anhand sechs Phasen: Konfrontation, Information, Exploration, Resolution, Disputation und Kollation.[5] Zuerst wird der Fall vorgestellt und die Trainees haben die Möglichkeit, um das Problem näher zu fokussieren, Verständnisfragen zu klären. In der zweiten Phase fassen die TeilnehmerInnen die relevanten Botschaften zusammen und erschließen selbständig weitere Informationen: in dieser Phase wird das eigene Vorwissen, als Basis für die Entscheidungsfindung, aufgerufen. Die Phase der Exploration ist durch eine Diskussion alternativer Lösungsmöglichkeiten innerhalb der Gruppe gekennzeichnet. Anschließend stellen die Gruppen den restlichen TeilnehmerInnen ihre Analysen vor: in der Abschlussbesprechung werden die Lösungsvorschläge gemeinsam verglichen und reflektiert und die TeilnehmerInnen müssen in der Lage sein, ihre Entscheidung durch eine Argumentation zu verteidigen. Zum Schluss können die erarbeiteten Lösungsvorschläge mit der in der Wirklichkeit getroffenen Entscheidung verglichen werden. Zu beachten gilt es jedoch, dass es bei Fallstudien keine vorgegebene oder „richtige“ Lösung gibt. Stattdessen steht der Argumentationsprozess im Vordergrund, der innerhalb jeder Gruppe stattfindet und eine kritische Auseinandersetzung mit einem realen Fall ermöglicht.[6] Um mehrere Optionen zuzulassen, sind häufig die zu Verfügung gestellten Informationen mit Absicht unvollständig.[7]

Lernziel

Der Einsatz von interkulturellen Fallstudien dient allgemein der Sensibilisierung für kulturelle Differenzen und der Reflexion der Implikationen eigener Gefühle, Verhaltensweisen und Wahrnehmungsmuster. Die Bearbeitung des Falles in der Gruppe sowie die Abschließende Reflexion sollten einen Perspektivenwechsel ermöglichen und, darüber hinaus, die interkulturelle Handlungskompetenz der TeilnehmerInnen anregen. Weiterhin fördert die Auseinandersetzung mit einer Fallstudie sowohl die eigene als auch die Gruppenentscheidungsfähigkeit in unsicheren Situationen. Dabei werden analytische und diagnostische Fähigkeiten erworben[8], d.h. die Fähigkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in interkulturellen Handlungskontexten möglichst schnell zu identifizieren. Außerdem schafft die Fallstudie eine Brücke zwischen der Theorie und der Praxis, die herausfordernd und motivierend für die TeilnehmerInnen sein kann.

Zielgruppe

Die Erarbeitung einer Fallstudie erfordert im hohen Maße Reflexionsfähigkeit und basiert auf der Annahme eines gewissen Vorwissens. Aufgrund der Punktualität des Falles fehlt außerdem Dynamik bei der Übung. Diese Merkmale lassen vermuten, dass die Fallstudien als Übungstyp eher für eine ältere Zielgruppe geeignet sind. Empirische Befunde[9] zeigen dazu, dass Schülergruppen, die eine Fallstudie bearbeiten, oft auf einer schmaleren inhaltlichen Basis diskutieren und leicht von der Aufgabestellung abweichen. Hier wird eine stärkere Anleitung benötigt. Sowieso sollte der Fall an die Zielgruppe angepasst und möglichst interkulturell offen dargeboten werden.

Herausforderungen

Die Anwendung von Fallstudien basiert auf dem lernpsychologischen Ansatz des Konstruktivismus und zielt auf eine interaktive Zusammenarbeit der TeilnehmerInnen. Dies bedeutet, dass die Trainees selbst aktiv werden sollen, um gemeinsam etwas zu gestalten bzw. einen Entscheidungsprozess zu aktivieren. Die Bearbeitung des Falles in einer kleinen Gruppe vermindert das Auftauchen von typischen Problemen des individuellen Entscheidungsverhaltens (z.B. selektive Wahrnehmung, unvollständige Informationsverarbeitung). Andererseits stellt die Phase der Disputation eine Garantie gegen Prozessverluste im Rahmen kollektiven Entscheidungsverhaltens dar: indem die Entscheidungen erneut evaluiert und reflektiert werden, dient die Diskussion im Plenum dazu, Phänomene wie Groupthinking oder Polarisierungstendenzen innerhalb der kleinen Gruppe zu minimieren.

Aus dieser Sicht sollten idealerweise heterogene Gruppen an der Fallstudie arbeiten, sodass bereits während der Bearbeitung Interkulturalität generiert wird. Dies macht den Verlauf möglicherweise komplizierter, bereichert jedoch die Erfahrungsvielfalt und Kreativität.[10]

Zu den Nachteile der Fallstudien, gehören die starke Vereinfachung der Realität und die korrelierte Gefahr, dass Stereotypen entstehen. Die abschließende Reflexion ist deswegen außerordentlich wichtig: dabei werden mögliche Stereotypen vermieden und der Transfer auf die Realität kritisch diskutiert.

Übungen zum interkulturellen Lernen auf YouTube

Literatur

  • Bannenberg, A.K. (2010): Die Bedeutung interkultureller Kommunikation in der Wirtschaft: theoretische und empirische Erforschung von Bedarf und Praxis der interkulturellen Personalentwicklung anhand einiger deutschen Großunternehmen der Automobil und Zuliefererindustrie. Kassel: Kassel University Press.
  • Bolten, J. (2012): Interkulturelle Kompetenz. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung.
  • Eubel-Kasper, K. (2009): Fallstudien als Vehikel für interkulturelles Lernen: ein Praxisbeispiel. In Otten, M./Scheitza A./Cnyrim A.: Interkulturelle Kompetenz im Wandel 2: Ausbildung, Training und Beratung. Berlin: Lit Verlag. 33-62.
  • Kaiser, F.J./Brettscheider V. (1999): Fallstudie. In: Jürgen Wiechmann (Hrgb.): Zwölf Unterrichtsmethoden (4. Aufl.). Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
  • Xue, D. (2003): Zur Entwicklung eines kulturadäquaten Konzeptes für interkulturelle Trainings Beispiel: interkulturelles Training für Chinesen zur Vorbereitung auf die Zusammenarbeit mit Deutschen. Regensburg: Universität Regensburg.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Eubel-Kasper, K. (2009).
  2. Kaiser, F.J./Brettscheider V. (1999): 144
  3. Xue, D. (2003).
  4. Xue, D. (2003).
  5. Kaiser, F.J./Brettscheider V. (1999): 149.
  6. Vgl. Bannenberg, A.K. (2010): 240
  7. Vgl. Bannenberg, A.K. (2010): 240
  8. Vgl. Bannenberg, A.K. (2010): 240
  9. Kaiser, F.J./Brettscheider V. (1999): 155.
  10. Vgl. Eubel-Kasper, K. (2009): 54.