Kulturbegriff: Unterschied zwischen den Versionen

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Im kombinierten Kulturbegriff sind alle vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Imaginativ, Sozio- und Umweltreziprozität) interdependent und beschreiben die Kultur als holistische, netzwerkfähige Lebenswelt. Je nach Akteursfeld wird einzelnen Reziprozitätsdynamiken mehr oder weniger Bedeutung beigemessen.
 
Im kombinierten Kulturbegriff sind alle vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Imaginativ, Sozio- und Umweltreziprozität) interdependent und beschreiben die Kultur als holistische, netzwerkfähige Lebenswelt. Je nach Akteursfeld wird einzelnen Reziprozitätsdynamiken mehr oder weniger Bedeutung beigemessen.
  
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Als perspektivenabhängiges offenes Netzwerk konventionalisierter Reziprozitätsdynamiken sind Kulturen sowohl prozess- als auch strukturbasiert. Sie verhalten sich polyrelational zu den vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Umwelt-, imaginative und soziale Reziprozität). Dabei sind die jeweiligen Akteure stets multirelational, d. h. sie haben Beziehungen zu verschiedenen Akteursfeldern. Daher setzen sich die Netzwerke (die „Kultur“) aus diversen, kohäsiv miteinander verflochtenen Kollektiven zusammen. Als vielschichtig-heterogene Netzwerke sind sie durch Polykollektivität (Hansen 2009) charakterisiert. Jede(r) Einzelne ist wiederum Mitglied unterschiedlicher Lebenswelten und somit durch Multikollektivität gekennzeichnet. (Hansen 2009). Ein Kohärenzanspruch für Kollektive bleibt aus Sicht der Kollektivitätstheorie jedoch bestehen, da neben der Prozess- auch eine Strukturorientierung des Netzwerks erfolgt. (Rathje 2009)
 
Als perspektivenabhängiges offenes Netzwerk konventionalisierter Reziprozitätsdynamiken sind Kulturen sowohl prozess- als auch strukturbasiert. Sie verhalten sich polyrelational zu den vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Umwelt-, imaginative und soziale Reziprozität). Dabei sind die jeweiligen Akteure stets multirelational, d. h. sie haben Beziehungen zu verschiedenen Akteursfeldern. Daher setzen sich die Netzwerke (die „Kultur“) aus diversen, kohäsiv miteinander verflochtenen Kollektiven zusammen. Als vielschichtig-heterogene Netzwerke sind sie durch Polykollektivität (Hansen 2009) charakterisiert. Jede(r) Einzelne ist wiederum Mitglied unterschiedlicher Lebenswelten und somit durch Multikollektivität gekennzeichnet. (Hansen 2009). Ein Kohärenzanspruch für Kollektive bleibt aus Sicht der Kollektivitätstheorie jedoch bestehen, da neben der Prozess- auch eine Strukturorientierung des Netzwerks erfolgt. (Rathje 2009)

Version vom 13. September 2016, 18:43 Uhr

Die Bedeutung(en) und Definitionen des Begriffs Kultur sind so vielfältig wie Kultur selbst vielfältig ist. Jedes Fachgebiet von der Biologie über die Kunst bis hin zur Soziologie haben ein anderes Verständnis davon, was Kultur bedeutet, aber auch innerhalb der Disziplinen gibt es zum Teil keine einheitlichen Definitionen. Für die Arbeit mit „Interkulturellem“ ist vor allem aber der lebensweltliche Ansatz relevant. Dennoch, auch hier können unterschiedliche Kulturbgriffe angenommen werden, abhängig von Perspektive und Erkenntnisinteresse. Gemein haben die Begriffsdefinitionen den Gegenstandsbereich von Kultur greifbarer zu machen und dessen Komplexität zu redizieren. Unabhängig davon, ob es sich um deskriptive oder normative Ansätze handelt. Wichtig: Mit Kulturbegriff ist in diesem Artikel eine Perspektive bzw. ein Verständnis darüber gemeint, was Kultur bedeutet. Mit Kulturmodellen hingegen sind in der Regel Metaphern gemeint, die Theorien, Definitionen etc. veranschaulichen.


„Kultur“ – Von der der Etymologie des Wortes zu Reziprozitätsdynamiken

Im europäischen Kontext stammt das Wort „Kultur“ vom lat. „cultura“ ab. Das konjugierte Verb „cultum“ (Part. Perf. Pass. von lat. „colere“) hat vier Bedeutungen: 1. Bewohnen, 2. Bewirtschaften, 3. Verehren, 4. Ausbilden. In anderen asiatischen Sprachen oder im bantusprachigen Südafrika ist der Begriff „Kultur“ nicht unmittelbar substanzlogisch, sondern prozessorientiert und wird relational verstanden. (Kluge 1989, 418). Die in diesem Sinn mit „colere“ als „Pflege von Beziehungen“ indizierte Relationalität referiert auf vier zentrale Handlungskontexte. „Pflege“ basiert dabei auf Reziprozität: 1.bewohnen, ansässig sein  soziale Umwelt (Soziokultur)  Soziale Reziprozität 2.Ackerbau betreiben  natürliche Umwelt (Öko-/Agri-Kultur  Umweltreziprozität 3.verehren, anbeten  Sinn, Spirituelles („Kult“)  Immaginative Reziprozität 4.veredeln, ausbilden  sich selbst („cultura animi“)  Selbstreziprozität

„Kultur“ ist dementsprechend interpretierbar als Prozess und Resultat der „Pflege von Beziehungen“, was der Etymologie des Kulturbegriffs entsprechend auf dem Zusammenwirken unterschiedlicher Formen von Reziprozität beruht (soziale Reziprozität, Umweltreziprozität, spirituelle/imaginative Reziprozität, Selbstreziprozität) (vgl. Bolten 2009/ Stegbauer 2010, 115) Eine fortgesetzte Reziprozitätspraxis führt über die Synchronisierung von Erfahrungen und Erwartungen zu Konventionalisierung der Reziprozitätsdynamik, d. h. der Wechseldynamik der vier Reziprozitätsbeziehungen.

Enger Kulturbegriff

Unter einem engen Kulturbegriff versteht man Kultur als Hochkultur (z.B. Kunst, Musik, Theater). Kulturell ist also, was physisch oder geistlich hergestellt/geschaffen wurde, als ästhethisch/edel gilt und sich von Alltäglichem abhebt und somit unter anderem einen Gegensatz zur Natur darstellt. Beispiele für diesen Kulturbegriff sind die Verwendung von Ausdrücken wie „Kunst und Kultur“ oder auch der sogenannte Kulturteil der Zeitung. Erweiterter Kulturbegriff Da der enge Kulturbegriff Kultur abgrenzt von dem was keine Kultur ist, ist ein erweitertes Verständnis entstanden . Ein erweiterter Kulturbegriff begreift Kultur als Lebenswelt . Tendenziell ist dieses Kulturverständnis daher weniger normativ und weniger steif, sondern bezieht sich auf das menschliches Zusammenleben und ist somit dynamisch. Der erweiterte Kulturbegriff beschreibt somit keine (bzw. nicht nur) geschaffenen Ideen und Werke, sondern bezieht sich vor allem und Gruppen bzw. auf zwischenmenschliche Beziehungen. Dieses Verständis von Kultur lässt sich wiederum in zwei Arten unterteilen, einen offenen und einen geschlossen erweiterten Kulturbegriff.

Geschlossener Kulturbegriff

Wenn Kultur als etwas klar Abgrenzbares – also zugehörig oder nicht zugehörig – gesehen wird spricht man von einem geschlossenen Kulturbegriff. Kultur ist also homogen und kohärent. Die kulturelle Identität ergibt sich jeweils aus der einfachen Zuordnung zu Kategorien, welche unter anderem räumlicher, sprachlicher, staatlicher oder auch ideeller Natur sein können. Oft wird in diesem Zusammenhang von der Containermetapher (Beck, 1998) gesprochen, da man durch diese zweiwertige Logik entweder drinnen oder draußen ist, dazugehört oder nicht. Entweder-oder.

Offener Kulturbegriff

Definiert man Kultur vor allem über zwischenmenschliche Beziehungen und konventionalisierte Reziprozitätsdynamiken (also alles, was eine Gruppe von Menschen als normal, relevant und plausibel gesehen wird), so lassen sie sich nicht mehr klar voneinander abgrenzen (keine Container). Stattdessen handelt es sich eher um mehr oder weniger offene Netzwerke, welche an ihren Rändern unscharf werden und sich mit anderen Netzwerken zum Teil überschneiden (Fuzzines). Diese Perspektive erlaubt plurale Identitäten durch Beziehungen zu unterschiedlichen Kollektiven (vgl. Sen, 2007)

Verständnis Geschlossener Kulturbegriff Offener Kulturbegriff Definition von Kultur durch Kohärenz Kohäsion Fokus Strukturen (Container ) Prozessen (Beziehungen, Netzwerke) Perspektive Statisch Dynamisch Vielfalt Homogenität Heterogenität Zuordnungslogik Zweiwertig Mehrwertig Zugehörigkeit Entweder-oder Sowohl-als-auch Beziehung zum Begriff Kultur haben Kultur sein


Fuzzy Cultures & Zooming

In einem mehrwertigen Verständnis von Kultur, kann kulturelle Identität nicht als klar abgrenzbare homogene Einheit betrachtet werden. Sie konstruiert und konstituiert sich insbesondere über Reziprozitätsbeziehungen ihrer Akteure in einem offenen Netzwerk, also durch Beziehungen. Dieses Netzwerk kann an den Rändern je nach Perspektive und Grad des Zooms (Mikro-, Meso-, Makroebene) unscharf bzw. „fuzzy“ erscheinen (Bolten 2009), da Kulturen nicht nur relational sind, sondern auch relativ gebunden an die Blickrichtung und den Blickwinkel ihrer Akteure (vgl. Mandelbrot/ Hudson 2007). Aufgrund dieser Unschärfe oder „Fuzziness“ beschreiben „soziale Zusammenhänge, Kohäsion und Kollektive“ (Conrad/ Eckert 2007, S. 18) kulturelle Identität(-en) adäquater als vermeintlich homogene nationalkulturelle Zuschreibungen.

Kombinierter Kulturbegriff

Der kombinierte (oder holistische) Kulturbegriff umfasst sowohl den engen als auch den erweiterten Kulturbegriff. Dabei schließt er jedoch deren Gültigkeiten nicht gegeneinander aus. Sowohl zweiwertige Logiken des geschlossenen Kulturbegriffs (Containerdenken) als auch mehrwertige Logiken des offenen Kulturbegriffs haben in einem kombinierten Kulturbegriff ihren Platz. Daher gilt für den kombinierten Kulturbegriff: „Sowohl entweder oder als auch sowohl als auch“ Die bevorzugten Reziprozitätsdynamiken des engen Kulturbegriffs (Selbst- und imaginative Reziprozität) werden zwar im erweiterten Kulturbegriff aufgenommen, stehen jedoch den Facetten der Sozioreziprozität zumeist nach. Die vierte Reziprozitätsdynamik, die Umweltreziprozität, wird selbst im offenen Kulturbegriff häufig als zweiwertig betrachtet. Kultur vs. Natur. Im kombinierten Kulturbegriff sind alle vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Imaginativ, Sozio- und Umweltreziprozität) interdependent und beschreiben die Kultur als holistische, netzwerkfähige Lebenswelt. Je nach Akteursfeld wird einzelnen Reziprozitätsdynamiken mehr oder weniger Bedeutung beigemessen.


== Relationalität und Kollektivität ==


Als perspektivenabhängiges offenes Netzwerk konventionalisierter Reziprozitätsdynamiken sind Kulturen sowohl prozess- als auch strukturbasiert. Sie verhalten sich polyrelational zu den vier Reziprozitätsdynamiken (Selbst-, Umwelt-, imaginative und soziale Reziprozität). Dabei sind die jeweiligen Akteure stets multirelational, d. h. sie haben Beziehungen zu verschiedenen Akteursfeldern. Daher setzen sich die Netzwerke (die „Kultur“) aus diversen, kohäsiv miteinander verflochtenen Kollektiven zusammen. Als vielschichtig-heterogene Netzwerke sind sie durch Polykollektivität (Hansen 2009) charakterisiert. Jede(r) Einzelne ist wiederum Mitglied unterschiedlicher Lebenswelten und somit durch Multikollektivität gekennzeichnet. (Hansen 2009). Ein Kohärenzanspruch für Kollektive bleibt aus Sicht der Kollektivitätstheorie jedoch bestehen, da neben der Prozess- auch eine Strukturorientierung des Netzwerks erfolgt. (Rathje 2009)